
4. November 2025
Chronische Schmerzen - (un)heilbar?
Was moderen Schmerzforschung wirklich sagt und was das für dich bedeutet
Jasmin Wullschleger
Schmerzspezialistin & Physiotherapeutin MSc
Hast du Schmerzen, die schon länger anhalten oder immer wiederkehren?
Dann bist du nicht allein. In der Schweiz lebt etwa
jede fünfte Person mit anhaltenden Schmerzen – das sind über
1,5 Millionen Menschen.(1)
Viele Betroffene waren schon bei mehreren Ärzt:innen, haben verschiedene Therapien ausprobiert und Medikamente genommen – und trotzdem bleibt der Schmerz. Manche haben die Hoffnung auf Besserung verloren und denken sich:
„Es wird wohl nie besser – da kann man halt nichts machen.“
Aber ist das wirklich so? Sind Schmerzen, die über Monate oder sogar Jahre bestehen, oder immer wieder kommen tatsächlich (un)heilbar?
Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen, was Schmerz eigentlich ist und wie er funktioniert.
Was ist Schmerz eigentlich?
Die Internationale Schmerzgesellschaft (IASP) definiert Schmerz als:
„Eine unangenehme Sinnes- und Gefühlserfahrung, die mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung verbunden ist oder dieser ähnelt.“
(2)
Von chronischen Schmerzen spricht man, wenn Beschwerden länger als drei Monate bestehen.
Schmerz ist also nicht einfach „das Signal für kaputtes Gewebe“, sondern ein hochkomplexer Schutzmechanismus. Oder wie es Dr. Howard Schubiner ausdrückt:
„Der Schmerz ist nicht das Problem, er ist die Lösung.“
Das klingt vielleicht seltsam – schliesslich erlebst du deinen Schmerz ganz klar als Problem. Aber eigentlich ist er die Lösung deines Gehirns, um dich zu warnen und zu schützen. Das heißt allerdings nicht, dass Schmerz immer mit einer Gewebeschädigung einhergeht. Schmerz ist eine Sinnes- und Gefühlserfahrung, die von vielen Faktoren beeinflusst wird.
"Schmerz ist nicht das Problem,
er ist die Lösung"
(Holwald Schubiner MD)
Howald Schubinder MD
Schmerz - Schutz oder Feind?
Wenn wir uns verletzen, warnt uns das Gehirn mit Schmerzsignalen, damit wir uns schonen und Heilung möglich wird. Doch manchmal bleibt dieser Alarm dauerhaft aktiv, auch wenn die eigentliche Gefahr längst vorbei ist. Dann wird der Schmerz selbst zum Problem.
Ein eindrückliches Beispiel zeigt, wie mächtig unser Gehirn ist:
Ein Bauarbeiter trat auf einen 15 cm langen Nagel. Vor Schmerzen schrie er so sehr, dass er sediert werden musste, um den Schuh zu entfernen. Als man den Schuh auszog, zeigte sich: Der Fuß war unverletzt – der Nagel war zwischen den Zehen hindurchgegangen.(3)
Der Schmerz war absolut real – aber er entstand allein durch die Erwartung und die Alarmreaktion des Gehirns.
Heisst das, dieser Mann hat sich den Schmerz „nur eingebildet“?
Nein. Schmerz ist immer real, unabhängig davon, ob Gewebe beschädigt ist oder nicht. In beiden Fällen reagiert dein Körper auf wahrgenommene Gefahr – und lässt dich Schmerz empfinden.

Nicht jeder Schmerz ist gleich - die drei Schmerzmechanismen
Die moderne Schmerzforschung unterscheidet drei Mechanismen die hinter Schmerzen stecken können(2):
Nozizeptiver Schmerz
Der klassische Warnschmerz nach Gewebeschädigung oder bei drohender Gewebeschädigung (z. B. nach Verletzung oder Operation).
Neuropathischer Schmerz Entsteht durch Schädigung oder Reizung von Nerven
(z. B. beim Karpaltunnel-syndrom oder bei Polyneuropathie).
Noziplastischer Schmerz Das Nervensystem ist überempfindlich und meldet Gefahr, obwohl keine Schädigung vorliegt.
Vielleicht denkst du jetzt:
„Das mag alles stimmen – aber mein Schmerz ist anders, der ist echt.“
Das verstehe ich. Es kann schwer sein, sich vorzustellen, dass der eigene Schmerz bestehen kann, ohne dass im Gewebe etwas „kaputt“ ist.
Weil er eben real ist – und sich nicht eingebildet anfühlt.
Dazu kommt:
nozizeptive und noziplastische Schmerzen fühlen sich gleich an. Beide lösen dasselbe Warnsignal im Gehirn aus.
Rein statistisch gesehen ist es jedoch sehr wahrscheinlich, dass bei Schmerzen, die länger als drei bis sechs Monate bestehen, noziplastische Mechanismen dominieren. So sind beispielsweise bei Rückenschmerzen in rund 90 % der Fälle keine ernsthaften Gewebeschäden nachweisbar.(4)
Warum aber bleibt dann der Schmerz bestehen?
Warum bleibt Schmerz bestehen?
Hier hilft das Fit-for-Purpose-Modell der Forschungsgruppe um Lorimer Moseley.(5) Es beschreibt drei Säulen, die erklären, warum Schmerzen chronisch werden können:
Glaubenssätze & Schmerzverständnis – z. B. „Mein Rücken ist kaputt“ oder „Bewegung verschlimmert alles“.
Sensibilität des Nervensystems – das Schutzsystem reagiert übermäßig stark auf harmlose Reize.
Strukturelle Belastbarkeit – durch Schonung baut der Körper ab, Muskeln und Gelenke werden schwächer.
Ein Beispiel: Du hast einen Hexenschuss. Die Schmerzen machen dir Angst (Säule 1). Du schonst dich und bewegst dich weniger. Dadurch sinkt deine Belastbarkeit (Säule 3). Wenn du wieder aktiv wirst, überlastest du schnell – das Nervensystem reagiert empfindlicher (Säule 2). So entsteht ein Teufelskreis, und der Schmerz bleibt bestehen.
Wenn Schmerz chronisch wird, verändert sich das System – aber das bedeutet nicht, dass Veränderung unmöglich ist.

Das Fit for Purpose Model adaptiert nach Wand et al. 2022
"Change is inevitable - how we change is not "
(Lorimer Moseley)
frei übersetzt bedeutet das:
"Veränderung ist unvermeidlich – wie wir uns verändern, liegt in unserer Hand"
Chronische Schmerzen - (un)heilbar?
Was die Forschung zeigt
Die gute Nachricht: Veränderung ist möglich.
Das Schmerzsystem ist lernfähig – selbst nach Jahren mit Beschwerden.
Es gibt keinen schnellen „Quick Fix“. Aber es gibt Wege, dein Nervensystem zu beruhigen und wieder Vertrauen in deinen Körper zu gewinnen.
Moderne Therapie Ansätze
Studien zeigen: Therapieformen, die das moderne Schmerzverständnis berücksichtigen und zum jeweiligen Schmerzmechanismus passen, erzielen die besten Ergebnisse:
Schmerzedukation: Schon allein durch ein besseres Verständnis, wie Schmerz funktioniert, erleben rund 50 % der Betroffenen eine deutliche Verbesserung.(6)
Cognitive Functional Therapy (CFT): kombiniert Aufklärung, Bewegung und Strategien im Umgang mit Angst und belastenden Gedanken. In einer großen Studie zeigte CFT signifikant bessere Resultate als Standardversorgung (= “normale” Physiotherapie und medizinische Interventionen).(7)
Pain Reprocessing Therapy (PRT): lehrt, Schmerzsignale neu zu interpretieren und alte „Schmerzprogramme“ im Gehirn umzuschreiben. In einer Studie berichteten 70% der Teilnehmenden nach vier Wochen PRT, schmerzfrei oder nahezu schmerzfrei zu sein; nach einem Jahr waren es immer noch 50 %.(8)
Im Vergleich dazu wirken Schmerzmittel wie NSAR bei chronischen Schmerzen deutlich schwächer.(9)
Die Forschung zeigt also klar: Es gibt keine magische Pille – aber es gibt wirksame Wege aus dem Schmerz.

Direkter Vergleich der Effektgrössen der Schmerzstärke von PRT (gelb), CRT (pink) und NSAR (grün).
Je weiter der Balken nach links ragt, desto mehr Schmerzreduktion wurde durch die Therapie erzielt.
Wege aus dem Schmerz - Die 3 Säulen
Verstehen
Der erste Schritt ist, deinen Schmerz wirklich zu verstehen.
Wissen über die Funktionsweise von Schmerz gibt Sicherheit und reduziert Angst. Dabei geht es darum, deine persönlichen Schmerzmechanismen zu erkennen, Mythen und alte Überzeugungen zu hinterfragen und deinem Körper wieder zu vertrauen.
💡 Mini-Tipp: Beobachte eine Woche lang, wann dein Schmerz stärker oder
schwächer ist. Das hilft, Muster zu erkennen und Zusammenhänge zu verstehen.
Beruhigen
Viele chronische Schmerzen entstehen, weil das Nervensystem dauerhaft auf Alarm steht.
Atemübungen, Achtsamkeit, Entspannungstechniken, ausreichend Schlaf und gezieltes Stressmanagement helfen, das System zu regulieren und die Empfindlichkeit zu senken.
So kannst du Schritt für Schritt Kontrolle über dein Schmerzempfinden zurückgewinnen.
💡 Mini-Tipp: Probiere die „4-5-6-Atmung“ – 4 Sekunden einatmen, 5 Sekunden halten,
6 Sekunden ausatmen. Eine einfache Technik, um dein Nervensystem zu beruhigen.
Belasten
Um langfristig schmerzfreier zu werden, braucht dein Körper Belastung – aber dosiert und sicher.
Gezieltes Training stärkt Muskeln und Gelenke, steigert Belastbarkeit und baut Vertrauen in den Körper auf. Dabei geht es nicht darum, Schmerz zu ignorieren, sondern ihn Schritt für Schritt zu trainieren, bis dein Schutzsystem versteht:
„Gefahr besteht nicht mehr.“
💡 Mini-Tipp: Starte mit kleinen Einheiten, z. B. 5–10 Minuten sanfte Bewegung täglich, und steigere langsam.
Wie die Säulen zusammenwirken
Die drei Säulen wirken miteinander:
Verstehen reduziert Angst und erleichtert Bewegung.
Beruhigen senkt die Empfindlichkeit des Nervensystems.
Belasten stärkt Körper und Selbstvertrauen.
Wer alle drei Bereiche berücksichtigt, hat die besten Chancen, den Schmerz nachhaltig zu verändern – und wieder aktiv am Leben teilzuhaben.
Fazit
Chronischer Schmerz bedeutet nicht, dass „nichts mehr zu machen ist“.
Auch wenn es kein Wundermittel gibt:
Veränderung ist möglich.
- Schmerz heißt nicht automatisch Schaden
- Dein Nervensystem kann sich beruhigen
- Dein Körper kann Belastbarkeit zurückgewinnen
Jede Schmerzgeschichte ist einzigartig – doch du kannst neue Wege gehen.
Und der erste Schritt beginnt mit
Verstehen.
Mach den kostenlosen Selbst-Check:
Wenn du wissen möchtest, welche Mechanismen hinter deinem Schmerz stehen
und wie du gezielt ansetzen kannst, um dein Schmerzsystem zu beruhigen –
dann ist der Selbst-Check der beste erste Schritt.
Er hilft dir:
- deine Schmerzursachen besser einzuordnen
- Sicherheit zu gewinnen, ob deine Schmerzen „neuroplastisch“ sein könnten
- und konkrete nächste Schritte zu erkennen.
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Gehe jetzt den ersten Schritt Richtung Veränderung
⚠️ Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel ersetzt keine ärztliche Untersuchung oder individuelle medizinische Beratung.
Bevor du mit neuen Ansätzen wie der Cognitive Functional Therapy (CFT) oder der Pain Reprocessing Therapy (PRT) beginnst, sollte eine ernsthafte körperliche Erkrankung ärztlich ausgeschlossen werden.
Erst wenn klar ist, dass keine strukturelle oder akute Ursache vorliegt, können diese Methoden ihr volles Potenzial entfalten.
Quellen & weiterführende Literatur
1. Breivik, H., Collett, B., Ventafridda, V., Cohen, R. & Gallacher, D. Survey of chronic pain in Europe: prevalence, impact on daily life, and treatment. Eur. J. Pain 10, 287–333 (2006).
2. International Association for the Study of Pain. International Association for the Study of Pain (IASP) https://www.iasp-pain.org/resources/terminology/ (2021).
3. Fisher JP, Hassan DT, O’Connor N. Minerva. Br. Med. J. 7;310, (1995).
4. Maher, C., Underwood, M. & Buchbinder, R. Non-specific low back pain. Lancet 389, 736–747 (2017).
5. Wand, B. M. et al. The fit-for-purpose model: Conceptualizing and managing chronic nonspecific low back pain as an information problem. Phys. Ther. 103, (2023).
6. Lee, H. et al. Does changing pain-related knowledge reduce pain and improve function through changes in catastrophizing? Pain 157, 922–930 (2016).
7. Kent, P. et al. Cognitive functional therapy with or without movement sensor biofeedback versus usual care for chronic, disabling low back pain (RESTORE): a randomised, controlled, three-arm, parallel group, phase 3, clinical trial. Lancet 401, 1866–1877 (2023).
8. Ashar, Y. K. et al. Effect of pain reprocessing therapy vs placebo and usual care for patients with chronic back pain: A randomized clinical trial: A randomized clinical trial. JAMA Psychiatry 79, 13–23 (2022).
9. Enthoven, W. T. M., Roelofs, P. D. D. M., Deyo, R. A., van Tulder, M. W. & Koes, B. W. Non-steroidal anti-inflammatory drugs for chronic low back pain. Cochrane Database Syst. Rev. 2, CD012087 (2016).